Die regierende türkische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die nun seit 18 Jahren an der Macht ist, versucht seit langem, die Social-Media-Plattformen, das einzige Medium für Nachrichten und Kommunikation, das sich noch immer außerhalb der Regierungskontrolle befindet, stärker zu regulieren und einzuschränken.

Die Alarmglocken dürften nun läuten, da die Regierung Pläne angekündigt hat, noch in diesem Monat einen weitreichenden Gesetzentwurf im Parlament einzubringen, der die Kontrolle der Regierung über die freie Meinungsäußerung in den sozialen Medien dramatisch ausweiten würde.

Am 1. Juli 2020 sagte der türkische Präsident und AKP-Vorsitzende Recep Tayyip Erdoğan in der Sitzung der AKP-Provinzvorsitzenden, die Regierung bereite die Schaffung eines neuen Rechtsrahmens für soziale Medien vor, mit dem Ziel, „solche Plattformen vollständig abzuschaffen oder [sie] kontrollieren zu lassen“. Die Diskussion über die Regulierung der sozialen Medien wurde offenbar durch Twitter-Kommentare zu einem Beitrag von Finanz- und Schatzminister Berat Albayrak angestoßen, in dem dieser, der auch der Schwiegersohn von Erdoğan ist, die Geburt seines Neugeborenen bekannt gab. Erdoğan sagte, die Kommentare zeigten, warum mehr getan werden müsse, um sicherzustellen, dass Plattformen wie YouTube, Twitter und Netflix „solch Unmoral und Perversität“ beseitigen, und fügte hinzu: „Die Türkei ist keine Bananenrepublik.“

In einer schriftlichen Erklärung kurz nach den Kommentaren von Erdoğan sagte Fahrettin Altun, der Kommunikationsdirektor des Präsidenten, dass die Worte des Präsidenten aus dem Zusammenhang gerissen worden seien, fügte aber hinzu: „Die zuvor erwähnten sozialen Netzwerke tragen nicht dazu bei, die Rechte unserer Bürger vor kriminellen Handlungen wie sexuellem Missbrauch, Obszönität, Glücksspiel, Betrug, Anstiftung zu Verbrechen, terroristischer Propaganda und Beleidigung zu schützen. Mehr noch, sie bilden die Grundlage für diese Verbrechen, trotz all unserer Warnungen.“

In den folgenden Tagen erklärten AKP-Beamte, dass ein Gesetzesentwurf mit 9 Artikeln fertig sei, dass aber die Ausarbeitung weiter fortgesetzt werde, um der internationalen Gesetzgebung in diesem Bereich zu entsprechen. Später schrieb der regierungsfreundliche Kolumnist der Tageszeitung Hürriyet und AKP-Unterstützer Abdulkadir Selvi, dass die Verordnung voraussichtlich vor dem 15. Juli vor dem Parlament eingebracht werden soll.

Erste Details durchgesickert

Geplante Details des Verordnungsentwurfs, der 9 Artikel umfasst, über den in den lokalen Medien berichtet wurde, bestätigen die großen Befürchtungen über die Bemühungen der türkischen Regierung, soziale Medien zu zensieren, nach Beispielen anderer autoritärer Länder wie Russland und China.

Zu den Plänen, die nach wie vor vage bleiben, gehören Berichten zufolge:

• Eine Verpflichtung für alle Social-Media-Plattformen mit mehr als 1 Million Reichweite in der Türkei, ein Büro zu eröffnen oder einen Vertreter in der Türkei zu haben, der als Ansprechpartner für offizielle Anträge auf Entfernung illegaler Inhalte oder Sperrung des Zugangs dient, das gilt insbesondere für Twitter.
• Diese Vertreter sind dafür verantwortlich, auf offizielle Anfragen zur Entfernung oder Sperrung von Inhalten innerhalb von 72 Stunden zu antworten.
• Die Forderung, dass Nutzer sozialer Medien ihre wahre Identität verwenden, um Fake-Accounts zu verhindern.
• Die Gewährleistung, dass Social-Media-Plattformen den Justizbehörden bei Verdacht auf ein Verbrechen Informationen zur Verfügung stellen.
• Das Verbot von Hassreden.

AKP-Vertreter erklärten, das Hauptproblem sei der Mangel an offiziellen Vertretern von sozialen Medien-Plattformen in der Türkei und eine schnelle Durchsetzung. Sie haben auch erklärt, dass die Sanktionen für die Einrichtung eines Fake-Accounts jetzt verschärft werden sollen.

Obwohl die Einzelheiten des Gesetzesentwurfs derzeit nicht eindeutig sind und größtenteils auf inoffiziellen Informationen beruhen, lassen die ersten Eindrücke den Versuch erkennen, die vollständige Kontrolle über soziale Medien und kritische Inhalte seitens der Regierung zu erlangen. Sollte der Gesetzentwurf verabschiedet werden, wird die rechtliche Infrastruktur die Bemühungen der regierenden AKP stärken, kritische Stimmen online zum Schweigen zu bringen und zu unterdrücken, darunter auch Journalisten, die schon jetzt wegen ihrer Beiträge in den sozialen Medien ständigen Angriffen ausgesetzt sind. Für viele Journalisten sind die sozialen Netzwerke die letzte Möglichkeit, ihre Arbeit zu verrichten.

In einem von der Direktion für Kommunikation im Mai veröffentlichten „Social Media User Guide“ wird in spezifischen Abschnitten über die Nutzung der sozialen Medien und den Kampf gegen Fehlinformation behauptet, dass „Social-Media-Terroristen“ diese Plattformen im Krisenmoment zur Provokation nutzen, während das Fehlen eines lokalen Vertreters im Land den Staat daran hindert, Informationen über terroristische Aktivitäten oder kriminelle Ereignisse zu erhalten.

Letzter bedrohter Freiraum

Die Türkei kriminalisiert in den letzten Jahren in zunehmendem Maße Journalisten und andere regimekritische Stimmen wegen des Vorwurfs terrorismusbezogener Verbrechen und Verleumdung. Laut dem „Turkey Free Expression Trial Monitoring Report“ des IPI vom März 2020 werden Artikel 299 des türkischen Strafgesetzbuches, der die „Beleidigung des Präsidenten der Republik“ regelt, und Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches über die „Verunglimpfung der türkischen Nation, des Staates, der Organe und Institutionen des Staates“ sowie das „Antiterrorgesetz der Türkei“ üblicherweise gegen Journalisten und gewöhnliche Bürger verwendet, die ihre Meinung in sozialen Medien äußern. Insbesondere Artikel 7(2) des Antiterrorgesetzes, der die Terrorismuspropaganda in die Presse regelt, ist wiederholt von IPI und anderen internationalen Menschenrechtsorganisationen kritisiert worden, weil er nicht den internationalen Standards der Meinungsfreiheit entspricht.

Des Weiteren hat die Türkei willkürlich Online-Nachrichtenmedien und Nachrichtenartikel mit Gerichtsurteilen über Zugangssperren belegt. Die raschen Urteile von Amtsgerichten zur Sperrung kritischer Nachrichteninhalte von Regierungsvertreter haben in den letzten Jahren stetig zugenommen. Das jüngste Beispiel war der Bericht der unabhängigen Zeitung Cumhuriyet über den illegalen Bau von Altun auf einem einer staatlichen Institution gehörenden Pachtland, in dem Korruption im Pachtvertrag aufgedeckt wurde. Im Anschluss an Altuns Anzeige wurde der Cumhuriyet-Bericht zusammen mit 272 Nachrichtenartikeln, die über das Thema berichteten, durch ein Gerichtsurteil gesperrt.

Daten des Berichts „EngelliWeb 2019“ der Freedom of Expression Association zufolge, wurde der Zugang zu 130.000 URLs, 7.000 Twitter-Accounts, 40.000 Tweets, 10.000 YouTube-Videos und 6.200 Facebook-Inhalten bis Ende 2019 in Übereinstimmung mit dem Gesetz Nr. 5651 zur „Regulierung des Rundfunks im Internet und die Bekämpfung von Straftaten, die durch Internet-Übertragungen begangen werden“ und anderen Bestimmungen der Behörde für Informationstechnologien und Kommunikation (BTK) gesperrt. Bis Ende 2019 wurden rund 50.000 Inhalte von Internetdienstanbietern nach Entscheidungen über Zugangssperren entfernt.

Auch wenn noch nicht alle Einzelheiten bekannt sind, werden die neuen Bestimmungen in Bezug auf die sozialen Medien den türkischen Behörden wahrscheinlich in die Hände spielen, um Online-Inhalte zu entfernen und die Zensur im Land zu beschleunigen. In der Zwischenzeit ist zu erwarten, dass die vorgeschlagenen neuen Bestimmungen die Bemühungen der türkischen Behörden beschleunigen werden, Social-Media-Unternehmen zu zwingen, entweder Inhalte zu löschen oder Benutzerdaten herauszugeben, basierend auf der weit gefassten türkischen Definition von „Terrorismus“ und anderen Konzepten, die regelmäßig missbraucht werden, um Journalisten ins Visier zu nehmen und um eine Basis für neue Verfolgungen von Journalisten zu schaffen.

Aus dem Englischen von Julia Rieser übersetzt

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