Die Pressefreiheitkrise in der Türkei verschärft sich angesichts der zunehmenden staatlichen Vereinnahmung der Medien, der mangelnden Unabhängigkeit der Regulierungsinstitutionen und eines neuen Gesetzes über die sozialen Medien, das den verbleibenden Freiraum für freie Kommentare einschränken soll, warnte eine Delegation von elf internationalen Organisationen für Pressefreiheit, Journalismus und Menschenrechte nach einer viertägigen Mission in das Land vergangeneWoche. Sie verwiesen auch auf die kontinuierlichen Inhaftierungen und strafrechtlichen Verfolgungen von Journalisten sowie auf die anhaltenden Bedenken hinsichtlich der Sicherheit von Journalisten und der Unabhängigkeit der Justiz.
Die Delegation hielt in der vergangenen Woche in Istanbul und Ankara hybride Online-/Offline-Treffen mit Journalisten, Mitgliedern der Zivilgesellschaft, Abgeordneten des Parlaments sowie Vertretern der Justiz und anderen Behörden ab, um aktuelle Bedrohungen für den unabhängigen Journalismus zu beurteilen, zu denen in diesem Jahr die Inhaftierung und strafrechtliche Verfolgung von Journalisten gehörte, die über das Handhaben des Landes mit der Covid-19-Pandemie berichteten. Die vom International Presse Institut (IPI) einberufene Delegation umfasste auch Vertreter von ARTICLE 19, the Association of European Journalists (AEJ), the Committee to Protect Journalists (CPJ), the European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF), the European Federation of Journalists (EFJ), Human Rights Watch (HRW), Osservatorio Balcani e Caucaso Transeuropa (OBCT), PEN International, Reporters without Borders (RSF) und the South East Europe Media Organisation (SEEMO).
Inhaftierung von Journalisten und Bedrohung ihrer Sicherheit
Zahlreiche Journalisten sitzen in der Türkei hinter Gittern oder müssen sich vor Gericht für ihre Arbeit verantworten. Staatliche Behörden instrumentalisieren nach wie vor ein Justizsystem, das grundlegende Rechte vor Gericht nicht garantiert. Der Mangel an politischem Willen, dieses seit 2016 weitgehend unveränderte Modell zu unterbinden, ist äußerst beunruhigend. Die Gerichtsentscheidung dieses Monats, den ehemaligen Cumhuriyet-Redakteur Can Dündar zum Flüchtigen zu erklären und sein Vermögen zu beschlagnahmen, steht symbolisch für die unerbittliche Verfolgung kritischer Stimmen und stellt eine neue Form des Angriffs auf Journalisten dar, indem das Privateigentum von Journalisten und ihren Familien als Vergeltung für ihre legitime journalistische Arbeit beschlagnahmt wird.
Bei einem Treffen mit der Menschenrechtsabteilung des Justizministeriums in Ankara riefen die Delegationsmitglieder die Behörden auch dazu auf, die Strafverfolgung derer, die für physische Angriffe auf Journalisten verantwortlich sind, die vor allem in lokalen Gebieten zunehmen, zu garantieren.
Die Sicherheit von Journalisten ist nach wie vor dadurch ernsthaft bedroht, dass die Türkei Journalisten und politische Gefangene von einem früher dieses Jahres angekündigten Programmes zur vorzeitigen Entlassung effektiv ausgeschlossen hat. Ziel dieses Programmes ist es, eine Überfüllung der Gefängnisse im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zu vermeiden. Journalisten, die bereits ihrer Freiheit beraubt sind, sehen sich somit einer ernsten Gefahr für ihre Gesundheit ausgesetzt.
Schwächung der Unabhängigkeit der Gerichte
In der Zwischenzeit haben die türkischen Behörden in den letzten Monaten ihre Bemühungen, die Presse zum Schweigen zu bringen, ausgeweitet, indem sie die Online-Zensur durch das neue, auf soziale Medien abzielende Gesetz verschärften, die parteiischen Regulierungsbehörden mobilisierten und eine neue Offensive gegen die Unabhängigkeit der Justiz gestartet haben, die sich gegen das türkische Verfassungsgericht (TCC) richtet. An dem Tag, an dem sich die Delegation mit dem TCC und dem Justizministerium traf, kündigte der Justizminister seine Unterstützung für die „Umstrukturierung“ des TCC im Einklang mit dem Präsidialsystem des Landes an.
Der von der rechtsnationalistischen MHP-Partei initiierte und von Präsident Erdogan unterstützte Vorschlag würde jegliche Unabhängigkeit des TCC untergraben, das trotz Verzögerungen bei der Entscheidungsfindung und gelegentlichem Versagen der unteren Gerichte bei der Umsetzung ihrer Urteile immer noch ein wesentlicher Garant für die in der Verfassung verankerten Grundrechte, einschließlich der Pressefreiheit, ist.
Das ist von entscheidender Bedeutung, angesichts der Bedenken, dass der allgemeine Mangel an richterlicher Unabhängigkeit in der Türkei das harte Vorgehen der Regierung gegen die Presse begünstigt hat.
Unabhängig davon forderte die Delegation bei ihrem Treffen mit dem TCC das Gericht nachdrücklich auf, Fällen von Pressefreiheit, einschließlich Fälle im Zusammenhang mit der Sperrung von Webseiten, größere Priorität einzuräumen, wobei sie feststellte, dass viele dieser Fälle anhaltende Rechtsverletzungen beinhalten. Die Delegation drängte das Gericht auch dazu, Pilotfälle auszuwählen, die Präzedenzfälle schaffen können, anhand derer sich die unteren Gerichte orientieren können, und sich mit dem Problem zu befassen, dass die unteren Gerichte Urteile des Verfassungsgerichts ignorieren, was eine ernsthafte Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit darstellt. Die Delegierten sprachen auch das anhaltende Problem der strafrechtlichen Verleumdungsgesetze der Türkei und die Notwendigkeit klarer Urteile des TCC in Verleumdungsfällen an, um das Recht auf Meinungsfreiheit zu gewährleisten.
Vernichtende Kritik an sozialen Medien
Bei ihrem Treffen mit dem Justizministerium äußerte die Delegation erneut heftige Kritik am Social-Media-Gesetz, das am 1. Oktober in Kraft getreten ist und den Weg für eine stärkere Online-Zensur ebnet. Social-Media-Plattformen sowie Online-Nachrichtenseiten gehören zu den letzten Bastionen für kritischen Journalismus in der Türkei nach der staatlich geführten Übernahme der Mainstream-Medien. Während die Regierung behauptet, die Maßnahme beruhe auf „ähnlichen“ Gesetzen in westlichen Ländern, fehlt es den türkischen Gerichten und Regulierungsbehörden an der nötigen Unabhängigkeit, um einen Missbrauch des Gesetzes zu verhindern. In der Praxis könnte das Gesetz daher als neues Instrument dienen, Kritiker online zum Schweigen zu bringen.
Die Reaktion der Social-Media-Unternehmen ist nach wie vor ungewiss, aber die Mitglieder der Delegation befürchten, dass diese Unternehmen, sollte das Gesetz in seiner jetzigen Form umgesetzt werden, faktisch zu einer Erweiterung des Zensurapparats der Regierung werden und den Aufforderungen zum Löschen von Inhalten ohne die Möglichkeit einer unabhängigen Überprüfung nachkommen würden.
Politische Manipulation von Regulierungsbehörden
Die Delegation fordert ein Ende des Missbrauchs staatlicher Regulierungsbehörden, einschließlich des Hohen Rates für Radio und Fernsehen (RTÜK) und der Behörde für Pressewerbung (BİK), um unabhängige Medien zu sanktionieren und finanziell zu schwächen. Der RTÜK hat eine Kampagne von Geldstrafen und Sendeverboten für unabhängige Fernsehsender eingeleitet. Während das Büro des RTÜK-Vorsitzes den Antrag der Delegation auf ein Treffen ablehnte, empfing İlhan Taşçı, ein Mitglied der Opposition, die Delegation und stimmte ihrer Besorgnis über den gezielt politisch motivierten Angriff auf kritische Sender zu. Unterdessen hat BİK, mit dem sich Anfang dieses Jahres Pressefreiheitsgruppen trafen, zunehmend falsche staatliche Werbeverbote für kritische Zeitungen erlassen. Sowohl RTÜK als auch BİK werden wirksam von der Regierung kontrolliert und weisen einen beklagenswerten Mangel an Unabhängigkeit auf, obwohl sie nominell unabhängige Institutionen sind.
Internationale Besorgnis über Bedrohungen der Redefreiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei
Die Delegation traf auch mit Vertretern von 17 diplomatischen Vertretungen in der Türkei zusammen – ein Zeichen der weltweiten Besorgnis über Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei – sowie mit der Delegation der Europäischen Union. Die Mitglieder der Pressefreiheitsdelegation begrüßen die jüngsten, ungeschminkten Ergebnisse des EU-Fortschrittsberichts über die Türkei, der einen „ernsthaften Rückschritt“ bei der Meinungsfreiheit hervorhebt. Aber die internationale Gemeinschaft muss ihre bilateralen und multilateralen Bemühungen verstärken, um die Türkei wieder in den Kreis der Länder zurückzubringen, die die Rechtsstaatlichkeit respektieren. Menschenrechtsfragen, einschließlich der Pressefreiheit, dürfen nicht zur Geisel geopolitischer Entwicklungen gemacht werden.
Aus dem Englischen von Julia Rieser übersetzt