Die unzähligen Strafanzeigen und Klagen gegen türkische Journalisten zeugen von der Absurdität der Pressefreiheit im Land. Seit ihrer Gründung im Juli 2018 hat sich die Präsidiale Direktion für Kommunikation als eine der entschlossensten Verfolger des Journalismus vor Gericht hervorgetan. Ihr Hauptaugenmerk richtet sich auf Berichte, die kritisch über Präsident Erdoğan und den Leiter der Direktion, Fahrettin Altun, berichten.

In den letzten Monaten hat die Direktion für Kommunikation zahlreiche Strafanzeigen gegen Journalisten eingereicht. Das jüngste Beispiel dafür erfolgte im vergangenen Monat, als die Cumhuriyet-Journalisten und -Redakteure Hazal Ocak, Vedat Arık, Olcay Büyüktaş und İpek Özbey im Rahmen einer Anti-Terror-Untersuchung zu einer Aussage geladen wurden, nachdem die Zeitung über einen Abriss berichtete, der auf einem von Altun gemieteten Grundstück durchgeführt worden war. Dem Bericht von Cumhuriyet zufolge, befindet sich das Grundstück, das am Bosporus gelegen ist, im Besitz der Generaldirektion für Stiftungen, die für die Verwaltung und Prüfung von Tausenden von Stiftungen zuständig ist, die seit dem Untergang des Osmanischen Reiches noch in Kraft sind, sowie für den Besitz der Ländereien, die diesen Stiftungen gehören. In der Zeitung hieß es, dass Altun dieses Staatsland weit unter dem Marktpreis, der bei etwa 37 Euro pro Monat liegt, gepachtet und darauf illegale Elemente wie eine Mauer, einen Pavillon und einen Kamin gebaut habe.

IPI sprach mit einem der betroffenen Journalisten, Hazal Ocak, über den Vorfall. „Als ich erfuhr, dass das Land von Altun gepachtet war, habe ich recherchiert und ihn befragt, erhielt aber keine Antwort“, erklärte Ocak.

Der Bericht ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Presse ihre Überwachungsrolle wahrnimmt, wobei die Dinge bald einen absurden Lauf nahmen. Auf eine Beschwerde von Altun hin beantragte ein Staatsanwalt eine Anti-Terror-Untersuchung gegen die Journalisten und argumentierte, der Bericht mache Altun zu einem „Ziel terroristischer Organisationen“, da er die Adresse des Mietgrundstücks neben dem Wohnhaus des Direktors und Fotos des besagten Gebäudes enthalte.

„Nachdem die Geschichte in Cumhuriyet veröffentlicht wurde, begann eine Hetzkampagne gegen mich. Regierungsfreundliche Medien begannen zu berichten, dass ich fake news produzierte, dass ich dies absichtlich tat, mit dem Ziel, Altun ins Visier zu nehmen, und dass dies eine Verschwörung gegen ihn sei“, sagte Ocak gegenüber IPI.

„Es handelte sich jedoch nur um einen Bericht über einen nicht genehmigten Bau auf einem Stück sehr wertvollen Landes“, fuhr sie fort. „Obwohl meine Berichte sachlich korrekt waren, hat darüber niemand gesprochen. Ich habe nur meine Arbeit gemacht und mein einziges Ziel war es, die Öffentlichkeit mit wahren und korrekten Nachrichten zu versorgen“.

Verbot der Berichterstattung über den Bau

Ceren Sözeri, außerordentliche Professorin an der Galatasaray-Universität für Medienpolitik und Presseethik, teilte IPI mit, dass Altuns Rolle in diesem und anderen Fällen gegen Journalisten eindeutig Anlass zur Sorge gebe.

„Er sollte keine Beschwerden gegen Journalisten einreichen, aber er kann und tut es“, sagte sie. „Er hat sich mit dem Präsidenten identifiziert und ist nicht unparteiisch. Er ist der Kommunikationsdirektor der Türkei, aber er handelt wie ein Propagandabeauftragter für Präsident Erdoğan. Wie auch Erdoğan [das Verbrechen der] ‚Beleidigung des Präsidenten‘ benutzt, um fast jede Kritik gegen ihn zum Schweigen zu bringen, so benutzt auch Altun seine Macht, um den Journalismus zum Schweigen zu bringen“.

Der Bericht von Cumhuriyet fand in den Medien große Beachtung. Um die Verbreitung der Informationen zu verhindern, beantragte Altun ein Verbot der Berichterstattung über seine Bauarbeiten, das ihm gewährt wurde. Insgesamt waren 273 Online-Nachrichtenartikel Gegenstand des von einem Gericht in Istanbul verhängten Verbots.

Als Grund für das Verbot wurde angegeben, dass die Meldungen über die Bauarbeiten mit dem Ziel veröffentlicht wurden, die Aufmerksamkeit weg von „Erfolgen im Kampf gegen das Coronavirus [zu lenken], obwohl viele europäische Länder scheitern“.

„Offensichtlich sieht sich Altun als hauptsächlich zuständig, um zu entscheiden, was berichtenswert ist und was nicht, und die Richter bestätigen das“, sagte Sözeri.

Der Name des Antragstellers genügt

Warum nimmt die türkische Justiz so schnell Verfahren gegen Journalisten auf und verhängt Verbote? Ocak äußert sich hierzu sehr deutlich.

„Der Oberste Kassationsgerichtshof kann manchmal die Verurteilungen gegen Journalisten aufheben. Ebenso könnte das Verfassungsgericht in einigen Fällen über die Verletzung der Rechte von Journalisten entscheiden“, stellte sie fest. „Aber die lokalen Gerichte der ersten Instanz schenken dem meist keine Beachtung. Leider kann der Name des Antragstellers manchmal ausreichen, um sofort eine Untersuchung einzuleiten“.

Laut Ocak ist die Situation rund um den Strafantrag verwirrend.

„Ich kann immer noch nicht verstehen, wie wir zu terrorbezogenen Anschuldigungen und Ermittlungen aufgrund einer Berichterstattung über einen nicht genehmigten Bau eines Pavillons kommen. Ich gehe davon aus, dass eine Strafe von bis zu fünf Jahren Gefängnis droht, wenn die von Altun eingeleitete Untersuchung vor Gericht kommt.

Öffentliche Werbeagentur unter der Kontrolle von Altun

Nach der gerichtlichen Schmutzkampagne gegen die Zeitungen, die über Altuns Pachtland berichteten, kam der nächste Schlag: Cumhuriyet erhielt von der türkischen Agentur für öffentliche Werbung (BİK) ein Werbeverbot von 35 Tagen. BİK wird dank eines Präsidialerlasses aus dem Jahr 2018 direkt von der Kommunikationsdirektion kontrolliert.

Laut Cumhuriyet rechtfertigte BİK ihre Entscheidung damit, dass der Artikel „die Grenze der kritischen Berichterstattung und der Meinungsfreiheit überschritten habe“ und somit gegen die Presseethik verstoße. In dem Beschluss hieß es auch, dass der Nachrichtenbericht die Öffentlichkeit manipuliere, er sei sachlich nicht korrekt und die Nachricht diene nicht dem öffentlichen Interesse. Eine Kürzung der öffentlichen Werbeeinnahmen von 35 Tage würde  Einnahmeverluste von 500.000 türkischen Liras (mehr als 67.000 €) für Cumhuriyet bedeuten.

Sözeri bewertete die Beziehung zwischen Altun und BİK: „Er tut das, weil er es kann. Er verlässt sich auf die Macht des Präsidenten und weiß, dass er geschützt wird. Jeder Dissident kann in der Türkei beschuldigt werden, ein ‚Terrorist‘ zu sein“.

Weitere strafrechtliche Ermittlungen sind im Gange

Altun war auch in anderen Fällen sehr daran interessiert, Beschwerden gegen Journalisten einzureichen. Ein weiterer aktueller Fall betrifft den Schriftsteller und Kolumnisten Ragıp Zarakolu, der beschuldigt wird, im Anschluss an eine Kolumne, die auf der Website Artı Gerçek und in der Zeitung Evrensel veröffentlicht wurde, für einen Staatsstreich eingetreten zu sein. Die Anschuldigungen stützen sich auf die Tatsache, dass der Kolumne ein Foto von Präsident Recep Tayyip Erdoğan beigefügt war, das neben einem Foto des verstorbenen Premierministers Adnan Menderes platziert war, der beim Staatsstreich der Türkei 1960 gestürzt und hingerichtet wurde.

Zarakolu hat die Vorwürfe vehement zurückgewiesen und darauf hingewiesen, dass er wegen seiner kritischen Berichterstattung von den verschiedenen Militärjuntas und den Regierungen in den 1970er und 1980er Jahren mehrfach verfolgt wurde.

Laut Sözeri werden gegen Zarakolu gerichtete Anschuldigungen von der Regierung benutzt, um durch falsche Anschuldigungen ein Gefühl der nationalen Einheit zu fördern.

„Gerüchte über einen Staatsstreich sind auch ein nützliches Instrument für das Erzielen von Zustimmung und politischer Polarisierung. In Zarakolus Beitrag gab es keine Forderung nach einem Staatsstreich, aber das spielt keine Rolle. Die Schlagzeile und das gewählte Foto reichen aus, um als strafrechtlicher Beweis angeführt zu werden. Das Justizsystem der Türkei steht unter hohem Druck, und die Gerichte sind weit davon entfernt, unabhängig zu sein“, erklärte sie abschließend.

Übersetzt aus dem Englischen von Julia Rieser