Das International Press Institute (IPI) hat heute das 45-tägige Werbeverbot gegen die unabhängige Zeitung Evrensel durch die türkische Agentur für öffentliche Werbung (BİK) wegen einer am 5. Mai 2020 veröffentlichten Kolumne, scharf verurteilt. Das ist das bisher längste öffentliche Werbeverbot gegen eine Zeitung in der Türkei.
Evrensel, eine unabhängige Zeitung mit Schwerpunkt auf Arbeitsrechten, steht seit September 2019 unter einem unbefristeten Verbot, nachdem BİK sie des vorschriftswidrigen Großeinkaufs bezichtigt hatte. Obwohl laut Evrensel die technischen Probleme behoben wurden, bleibt das Verbot bestehen.
Währenddessen erhält Evrensel weiterhin Verbote wegen „Verstößen gegen die Presseethik“, wozu auch das jüngste Verbot gehört. Am 5. Mai 2020 schrieb der Evrensel-Kolumnist, Verleger und bekannte Menschenrechtsaktivist Ragıp Zarakolu einen Artikel mit dem Titel „Es gibt kein Entrinnen vor einem schlechten Schicksal“, der auch auf der Nachrichtenseite Artı Gerçek veröffentlicht wurde. Dem Verfasser der Kolumne wurde unterstellt für einen Staatsstreich zu plädieren, da sie die Haltung gegenüber dem politischen Islam während der Regierungen von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und des verstorbenen Premierministers Adnan Menderes verglich. Dem Artikel war ein Foto von Erdoğan beigefügt, das neben Menderes platziert war, der beim Staatsstreich 1960 in der Türkei gestürzt und hingerichtet wurde.
Es folgte eine Ermittlung auf Veranlassung von Fahrettin Altun, dem Leiter der Kommunikationsdirektion des türkischen Präsidialbüros. BİK, die von der Kommunikationsdirektion kontrolliert wird, beantragte dann eine Rechtfertigung von Evrensel. Die Direktion für Kommunikation behauptete, der Artikel und das verwendete Bild seien dazu benutzt worden, um anzudeuten, dass Erdoğan ein ähnliches Ende wie der hingerichtete Premierminister nehmen würde.
„Trotz internationaler Vorbehalte und Proteste gegen diese Praktiken nutzt BİK weiterhin ihre Macht, um kritische Medien zu bestrafen, indem sie öffentliche Anzeigen zurückhält, die eine wesentliche Finanzierungsquelle für die Medien in der Türkei darstellen“, sagte der stellvertretende Direktor IPIs, Scott Griffen. „BİKs Vorgehensweise, Verbote für unabhängige Medien auszusprechen und gleichzeitig die routinemäßigen Verstöße gegen die Presseethik in regierungsfreundlichen Medien zu ignorieren, lässt auf eine klare Regierungstaktik schließen, um abweichende Stimmen zu ersticken.“
„BİK muss aufhören, Werbeverbote für kritische Zeitungen in der Türkei zu erlassen und seine Verpflichtung zur Unterstützung eines pluralistischen Medienumfelds in der Türkei wahrnehmen.“
BİK hat aufgrund von „Verstößen gegen die Presseethik“ vermehrt befristete Werbeverbote für Zeitungen erlassen. IPIs Untersuchungen ergaben, dass BİK allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2020 39 nationale und lokale Zeitungen mit Werbeverboten belegt hat, was insgesamt 316 Tage ausmacht. Im Vergleich dazu hat BIK zwischen Januar und September 2019 gegen nur sechs Zeitungen Verbote von insgesamt neun Tagen verhängt. Anfang dieses Monats sandte IPI einen gemeinsamen, von 20 internationalen Organisationen unterzeichneten Brief an BİK-Direktor Rıdvan Duran, in dem um mehr Transparenz bei der Verhängung von Verboten und der Verteilung von öffentlichen Werbeanzeigen in Zeitungen ersucht wurde.
Aus dem Englischen von Julia Rieser übersetzt.