In den frühen Morgenstunden des 11. September 2018 wurde der österreichische Journalist Max Zirngast in Ankara von türkischen Anti-Terror-Einheiten verhaftet, die seine Wohnung stürmten und Bücher konfiszierten. Der 29-Jährige wurde ins Sincan-Gefängnis geworfen, obwohl er, seines Wissens nach, nie gegen türkisches Gesetz verstoßen hatte. Tage, Wochen, Monate vergingen.

Dann endlich, am 24. Dezember 2018, wurde er freigelassen (ein „schönes Weihnachtsgeschenk“, wie er es selbst nannte). An jenem Tag lieferten die Behörden auch die sehnlichst erwartete Anklageschrift, in der Zirngast – ohne schlüssige Beweise – vorgeworfen wird, Teil einer terroristischen Organisation zu sein. Er ist zurzeit in Ankara, steht unter Reiseverbot, und wartet auf seinen Prozess im April. Aufgrund der Willkür, die derzeit in den Gerichtsprozessen von JournalistInnen in der Türkei vorherrscht, ist der Ausgang ungewiss.

In einem aktuellen Interview mit dem in Wien stationierten International Press Institute (IPI) erklärte Zirngast, dass diese Unsicherheit seine missliche Lage noch wesentlich verschlimmere. Er hatte keine Ahnung, wie lang er die Haft erdulden würde müssen. „Wenn dir jemand sagt, du kommst für drei Monate ins Gefängnis – kein Problem, du stellst dich darauf ein“, sagte er. „Doch die Unsicherheit zermürbt dich.“

Die Geschichte von Zirngasts Inhaftierung und Anklage ist kein Einzelfall. Den Nachforschungen des IPI zufolge sitzen derzeit fast 150 JournalistInnen in der Türkei hinter Gittern, als Teil einer weitreichenden Bekämpfung der Medien und der freien Meinungsäußerung. Der Verdacht, dass Zirngast aufgrund seiner journalistischen Arbeit zum Ziel wurde, kam kurz nach seiner Verhaftung auf. Am 12. September bezeichnete Ravi R. Prasad, Head of Advocacy beim IPI, Zirngast’s Verhaftung als „Angriff auf die Pressefreiheit und eine grobe Verletzung aller internationaler Normen der freien Meinungsäußerung“.

Zirngast hatte kritisch über die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan berichtet, sowie über sensible türkisch-kurdische Themen. Er schrieb einen Beitrag zu dem Buch „Der Kampf um Kobanê” und veröffentliche in links orientierten Magazinen wie re:volt und Jacobin. In letzterem schrieb er 2015 einen besonders kritischen Artikel unter dem Titel „Erdoğan’s Bloody Gambit“, in dem er die türkische Regierung beschuldigte, ein ISIS-Selbstmordattentat zu instrumentalisieren, um „Krieg zu führen – nicht gegen ISIS, sondern gegen die kurdische Freiheitsbewegung“. In einem Brief an die Washington Post bezeichnete Zirngast sich selbst als „politischen Gefangenen“.

Isolation und Unsicherheit im Gefängnis

Die Rechte von Insassen in der Türkei wurden seit der Ausrufung des Notstandes im Juli 2016 Schritt für Schritt abgebaut, sagte Zirngast, Während seines dreimonatigen Aufenthalts im Sincan-Gefängnis erlebte er diese Entwicklung aus erster Hand. „Es ist eine heftige Isolation“, erzählte er dem IPI und beschrieb, wie seine Anfrage für nicht-familiären Besuch wiederholt zurückgewiesen wurde, aufgrund von negativer „Sicherheits-Checks“ der BesucherInnen. Sein Zellengenosse erhielt nicht einmal eine Antwort auf seine Anfrage. „De facto wurde uns also das Besuchsrecht genommen“, sagte Zirngast.

Andere Beispiele von Maßnahmen, die die Rechte der Insassen einschränkten, umfassten die Reduzierung der Anzahl von in Zellen erlaubten Büchern, die Reduzierung sportlicher Aktivität von einmal pro Woche hinunter auf einmal alle zwei bis drei Wochen, und – was die Isolation weiter verschärfte – die Abschaffung wöchentlicher Gespräche mit anderen Insassen des Blocks.

Es gab außerdem einen Mangel an Warmwasser. Zu Beginn hatte Zirngast warmes Wasser für zwei Stunden pro Abend, dann gab es aufgrund eines „Defekts“ eine Woche lang nur kaltes Wasser. Irgendwann wurde dann das warme Wasser auf 30 Liter pro Tag und Mann rationiert. „Das klingt nicht nach wenig, aber du verlierst mal 10 Liter bis es warm wird, die nächsten 10 sind dann Rost, und mit dem Rest kannst du dich duschen“, sagte Zirngast. „Nicht allzu angenehm im Winter.“

Doch am schlimmsten war die Unsicherheit, die das Leben im Gefängnis bestimmte. Die Wächter brachen regelmäßig die Regeln. Beispielsweise sagte Zirngast, dass er und sein Zellgenosse gezwungen wurden, bei der regelmäßigen Zählung aufzustehen, obwohl Insassen dabei laut türkischem Gesetz sitzen dürfen. „Das sind Kleinigkeiten – man denkt sich wahrscheinlich, was ich da für ein Theater mache wegen aufstehen oder sitzen“, sagte Zirngast. Doch durch diese kleinen, willkürlichen Verweigerungen von Rechten versuchten die Wächter, die „Psychologie der Insassen zu beeinflussen“, die nicht mehr sicher sein konnten, welches ihrer Rechte als nächstes verweigert werden würde.

Eine bewaffnete „Phantom“-Gruppe

Die Anklageschrift gegen Zirngast, mit konkretem Prozessdatum, kam endlich am 24. Dezember – dem Tag seiner Freilassung. Das 123-Seiten starke Dokument bestätigte schwarz auf weiß, was Zirngast von Anfang an vermutet hatte: für die Anklage wegen „Mitgliedschaft bei einer terroristischen Organisation“ gab es keine stichhaltigen Beweise. In der Schrift versuchte die türkische Staatsanwaltschaft, eine Verbindung zwischen Zirngast und einer „bewaffneten illegalen Terror-Organisation“ namens „TKP/K” (“Türkiye Komünist Partisi/Kıvılcım“, übersetzt „Türkische Kommunistische Partei/Funke“) herzustellen. Zirngast wird sogar vorgeworfen, der Ankara-Verantwortliche dieser Gruppe zu sein.

Allerdings, so das Ergebnis detaillierter Nachforschungen der #freemaxzirngast-Kampagne, die von FreundInnen und UnterstützerInnen Zirngasts geleitet wird, gibt es keinen Beweis für die Existenz der TKP/K – ganz zu schweigen von „terroristischer“ Aktivität (die Gruppe ist nicht in der Liste aktiver Terror-Organisationen der türkischen Regierung geführt). Bei einem ähnlichen Gerichtsprozess im Jahre 2015 urteilte ein türkisches Gericht, dass die Existenz der TKP/K nicht einwandfrei bewiesen werden konnte. Besonders bizarr: Zirngasts Anklageschrift verweist explizit auf dieses Urteil aus 2015. Die Analyse der Kampagne zeigt auch, dass die restlichen „Beweise“ aus scheinbar zusammenhangslosen Beobachtungen aus Zirngasts Leben und Aktivitäten bestehen, wobei nicht klar angegeben wird, inwiefern diese in Verbindung zu terroristischer Aktivität stehen.

Diese Absurditäten erschweren die Vorbereitung einer Verteidigung. „Es ist schwierig, sich gegen etwas zu verteidigen, was nicht existiert“, sagte Zirngast und merkte an, dass in den 123 Seiten nichts darauf hinweist, dass er ein Verbrechen begangen hätte. „Doch man musste irgendetwas konstruieren, um zu rechtfertigen, dass man mich für über drei Monate ins Gefängnis gesteckt hatte.“

Sämtliche Anwälte, mit denen Zirngast gesprochen hatte, gaben an, dass eine Verurteilung wegen „Mitgliedschaft bei einer terroristischen Organisation“ aufgrund der schwachen Beweislage fast außer Frage stehen sollte. Doch die Staatsanwaltschaft könnte eine andere, weniger ernste Anklage vorbringen, wie etwa die Verbreitung von Propaganda für eine terroristische Organisation. „Alles außer Freispruch wäre absurd, was nicht heißt, dass es unmöglich ist“, sagte Zirngast mit zynischem Lächeln.

Ein Muster der Willkür

Caroline Stockford, IPI Advocacy Coordinator, sagte, dass der kafkaeske Zugang der Staatsanwaltschaft und der Mangel echter Beweise in Zirngasts Fall andere Gerichtsprozesse von JournalistInnen in der Türkei wiederspiegelt.

„Was Max Zirngast erlebt ist weder ungewöhnlich noch ein Einzelfall, sondern passt in ein Muster willkürlicher Inhaftierungen und Strafverfolgungen gegen kritische JouralistInnen und reflektiert den generellen Zusammenbruch der Rechtstaatlichkeit in der Türkei“, sagte sie. „Wer die Politik der türkischen Regierung hinterfragt oder kritisch über sensible Themen schreibt, wird zum potenziellen Ziel. Einmal mehr rufen wir die Türkei dazu auf, sämtliche Anklagen gegen Herrn Zirngast fallen zu lassen und ihm die Heimreise zu gestatten.“

Zirngast selbst ist entschlossen, nicht zum Schweigen gebracht zu werden. Er sagte dem IPI, dass er eine Verurteilung wegen eines weniger ernsten Verbrechens wie die Verbreitung von Propaganda nicht akzeptieren würde und „jedes ihm zur Verfügung stehende Werkzeug nutzen würde, um die Schaffung eines Präzedenzfalls“ zu verhindern.

Pessimismus, fügte er hinzu, sei keine Option. „Kritische Medien werden zurückgedrängt, nicht nur in der Türkei, auch in Europa. Doch kritische Initiativen existieren, und wenn wir uns gegenseitig unterstützen und Erfahrungen teilen, werden wir stärker. Es ist erst vorbei, wenn wir glauben, dass es vorbei ist.“