Den derzeitigen EU-Ratsvorsitz innehabend, spielt Deutschland eine entscheidende Rolle bei der Steuerung der Türkei-Politik. Welche Strategie sollten Deutschland und die EU bei der Verteidigung der Grundrechte inmitten der anhaltenden Krise bezüglich der Pressefreiheit in der Türkei verfolgen?
Das war das Thema eines Webinars, das kürzlich vom Internationale Press Institut (IPI) zusammen mit IPI -Nationalkomitees (NC) in der Türkei und in Deutschland veranstaltet wurde. Das Webinar mit dem Titel „Unterstützung der Pressefreiheit in der Türkei während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft“ ist Teil der laufenden Webinarreihe IPIs zur Pressefreiheit in der Türkei.
An dem Webinar, das von ZDF-Türkei-Korrespondent Jörg Brase moderiert wurde, nahmen mehrere prominente Redner teil: Cem Özdemir, Mitglied des Deutschen Bundestages (Bündnis 90/Die Grünen), Susanne Schütz, Direktorin für Südosteuropa, Türkei und EFTA-Staaten im Auswärtigen Amt, die prominente türkische Journalistin Banu Güven und der Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky (Grüne/EFA), Vorsitzender der Delegation im Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei.
Schütz begann ihre Ausführungen mit der Feststellung, dass die Überwachung der Pressefreiheit und der Menschenrechte in der Türkei „nicht etwas ist, das auf 6 Monate im Jahr 2020 beschränkt ist“. Deutschland habe das Thema aufmerksam verfolgt und in bilateralen Gesprächen, in internationalen Foren und in öffentlichen Stellungnahmen zur Sprache gebracht. „Wir beobachten aufmerksam die Entwicklungen in den Medien, die Zahl der Journalisten, die inhaftiert sind, die Zahl der Journalisten, die nicht arbeiten können oder die das Land verlassen. Das ist etwas, das uns in der Tat sehr beunruhigt.“
Sie betonte aber auch, wie wichtig es sei, eine Gesprächsbasis mit der Türkei zu haben, wobei sie die wichtige regionale Rolle des Landes hervorhob. „Die deutsche Regierung hat immer argumentiert, dass wir die Beziehungen zur Türkei nicht abbrechen wollen. Wir wollen die Türkei als Beitrittskandidat nicht ausschließen, weil wir nach wie vor glauben, dass es in der Türkei viele Menschen gibt, die auf eine europäische Zukunft hoffen. Aber es ist natürlich klar, dass es keine normalen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei geben wird, solange sich die Menschenrechtssituation nicht bessert.
Notwendigkeit einer vereinten Stimme
Auf die Frage, ob die EU genug tue, um die Pressefreiheit in der Türkei zu unterstützen, antwortete Özdemir: „Wir könnten mehr tun, wir müssen mehr tun. Leider ist die EU gespalten, wenn es um die Türkei geht“. Dieser Mangel an Einigkeit, so Özdemir, mache es schwieriger, die Menschenrechte zu verteidigen.
Das erste Ziel, so Özdemir, „sollte daher sein, die EU zusammenzubringen und sich auf eine gemeinsame Position gegenüber der Türkei zu einigen. Wen auch immer türkische Politiker treffen, sie sollten die gleiche Botschaft hören: Ihr müsst Selahattin Demirtaş und andere Politiker freilassen, ihr müsst Osman Kavala und andere Vertreter der Zivilgesellschaft freilassen, ihr müsst Ahmet Altan und all die anderen Journalisten freilassen“.
Die Diskussionsteilnehmer erörterten auch die Rolle geopolitischer Schlüsselthemen wie die Migrantenkrise. Lagodinsky sagte, die EU dürfe bei diesen Themen nicht erstarren, nur weil sie Angst vor einer „Bedrohung“ durch Migration hätten. Güven stimmte dem zu und erklärte, dass die EU ein für alle Mal eine humane Lösung für die Migrations- und Flüchtlingskrise finden sollte, damit der türkische Präsident Erdoğan diese Karte nicht gegen die EU ausspielen kann.
Als der Moderator Brase fragte, was die EU tun solle, sprach sich Lagodinsky für eine rote Linie aus. „Das ist etwas, was ich mir von der deutschen Präsidentschaft wünsche“, sagte er. „Unsere rote Linie ist dort, wo die Bürger- und Menschenrechte in der Türkei durch die türkische Politik systematisch zerstört werden“.
Verschlechterung der Situation
Klar ist, dass sich die Pressefreiheit in der Türkei trotz internationaler Kritik nicht verbessert hat. In der Tat, so Güven, verschlechtert sich die Situation in der Türkei an allen Fronten und die Pressefreiheit wird ständig angegriffen, was schwerwiegende Auswirkungen auf die politischen Freiheiten hat. „Wenn es keine freien Medien mehr gibt, kann niemand faire Wahlen und Demokratie garantieren“, schloss Güven.
Sie zeichnete auch ein düsteres Bild vom Leben der kritischen Journalisten im Land. „Wenn man über die Regierung, über kritische Dinge schreibt, wird man unter jedem Beitrag, den man veröffentlicht, bedroht und mit Hassreden attackiert. Man gewöhnt sich irgendwie daran.“
Der Kampf um Türkeis Platz in Europa
Trotz der eindeutigen Herausforderungen herrschte unter den Diskussionsteilnehmern weitgehende Einigkeit darüber, dass eine europäische Perspektive für die Türkei nach wie vor einen Kampf wert ist.
„Ich habe eine europäische Zukunft und eine europäische Perspektive für die türkische Gesellschaft noch immer nicht aufgegeben“, sagte Lagodinsky. „Dafür müssen wir weiter kämpfen, und die deutsche Ratspräsidentschaft sollte weiter kämpfen.
Özdemir sagte abschließend: „Wir kritisieren die Regierung und das Regime. Aber nicht die Menschen und das Land. Eine demokratische Türkei hat ihren Platz in Europa. Erdogan nicht.“