Am 30. Oktober 2019 wachten 45 Medienmitarbeiter, von Journalisten über Fotografen bis hin zu Grafikern, zu einer schriftlichen Mitteilungen der Geschäftsführung von Hürriyet auf, der einst prominentesten türkischen Tageszeitung, indem sie über ihre Entlassungen informiert wurden.

Der Schachzug erfolgte ein Jahr nach der Übernahme von Hürriyet durch den regierungsnahen Mischkonzern Demirören-Gruppe. Der Verkauf ist Teil eines umfassenderen Trends der „Vereinnahmung“ in der Türkei, bei dem regierungsnahe Eigentümer die Kontrolle über zuvor unabhängige Nachrichtenorganisationen übernehmen.

Seit den Entlassungen hat kein einziger Mitarbeiter seine Abfindungsansprüche erhalten. Insgesamt haben die 45 Mitarbeiter 505 Beschäftigungsjahre angesammelt. Inzwischen haben die Mitarbeiter das Unternehmen verklagt, aber bis heute wurde noch kein einziger Fall beigelegt.

Das International Press Institute (IPI), ein globales Netzwerk an Redakteuren, Medienvertretern und führenden Journalisten für Pressefreiheit, fordert die Demirören-Gruppe auf, die Journalisten gemäß ihren gesetzlichen Verpflichtungen zu entschädigen.

Die Mitarbeiter wurden gerade entlassen, als die Journalistengewerkschaft der Türkei (TGS) im Begriff war, die benötigte Mitgliederzahl zu erreichen, um eine offizielle Befugnis zu erhalten,  mit dem Arbeitgeber an einem Tisch zu sitzen, um Verhandlungen über die Gehälter der Mitarbeiter zu führen.

„Die Demirören-Gruppe ist eines der reichsten Medienunternehmen des Landes. Es gibt keine Rechtfertigung für die Weigerung des Unternehmens, die Mitarbeiter für ihre langjährige Arbeit zu entschädigen. Sie offenbart einen Mangel an Respekt vor Journalisten“, sagte der IPI Direktor der Interessensvertretung für Europa, Oliver Money-Kyrle.

Er fügte hinzu: „Die Vereinnahmung der Mainstream-Medien durch regierungsnahe Unternehmen ist eine der schädlichsten und prägendsten Strategien, um dem unabhängigen Journalismus in der Türkei einen Maulkorb zu verpassen. Eine weitere Vereinnahmung der Gerichte, die die Rechtsstaatlichkeit untergraben hat, stellt sicher, dass Journalisten, selbst diejenigen, die eine einfache Entschädigung in Arbeitsfragen fordern, sich nicht darauf verlassen können, ein faires Verfahren zu erhalten.

Nach Angaben der Journalisten, die entlassen wurden – von denen einige ein Jahr später immer noch arbeitslos sind:

  • sind sie wegen ihrer Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft unrechtmäßig entlassen worden;
  • haben die ihnen gesetzlich zustehende Entlassungsentschädigung nicht erhalten;
  • wurden sie für ihre Überstunden nicht bezahlt;
  • haben sie insgesamt 505 Jahre für die Zeitung gearbeitet ; und
  • sie warten immer noch darauf, dass die Gerichte über die vor einem Jahr eingereichten Klagen entscheiden.

Hürriyet, die drittauflagenstärkste Zeitung der Türkei, wurde 2018 von der Demirören-Gruppe gekauft. Mit dem Verkauf schloss Demirören seine Übernahme der Medienhäuser der prominenten Mediengruppe Doğan ab, nachdem sie zuvor bereits 2011 die Zeitungen Milliyet und Vatan erworben hatte, was zur Entlassung vieler regierungskritischer Journalisten dieser beiden Zeitungen, darunter Derya Sazak, Hasan Cemal und Can Dündar, führte.

IPI-Mitglied Banu Tuna war Redakteurin bei Hürriyet und Direktorin der TGS-Niederlassung in Istanbul. Sie erinnerte sich, dass sie sich nicht mehr in ihr E-Mail-Konto einloggen konnte und dann erfuhr, dass sie eine der 45 zu entlassenden Personen war.

„Abgesehen vom Druck auf die Medienfreiheit ist das auch ein Zeichen dafür, dass der Sozialstaat in der Türkei zusammengebrochen ist“, sagte Tuna. „Der Staat steht nicht auf der Seite der Arbeitnehmer, der Staat ist solidarisch mit den Chefs und Firmeninhabern. Was Demirören Media getan hat, war ein Verstoß gegen das Arbeitsgesetz. Aber Sie sehen ja, was wir nach einem Jahr immer noch durchmachen müssen, wir werden in den Gerichtssälen gequält. Normalerweise sollten solche Fälle einschließlich der Berufung acht Monate dauern“.

Tuna sagte, als die Demirören-Gruppe die Zeitung kaufte, wussten die Journalisten von Hürriyet, dass die Situation irgendwann an diesen Punkt kommen würde, und das war der Grund, warum die Gewerkschaftsmitgliedschaft zunahm. Die Redakteurin war überrascht, dass sie so lange brauchten, um sie zu entlassen.

Tuna beschrieb, wie das Management die Zensur von oben allmählich verstärkte und es „unerträglich war, dort zu arbeiten“. Ihr Artikel über die Umweltkosten der TurkStream-Pipeline sei zensiert worden, sagte sie.

İpek Yezdani, ebenfalls Mitglied IPIs, arbeitete in der Auslandsredaktion und als leitende diplomatische Korrespondentin bei der Zeitung. ‚“Die Demirören-Gruppe verstößt gegen das Gesetz“, sagte Yezdani. „Es ist ihre rechtliche Verpflichtung, uns eine Entschädigung zu zahlen. Das Geld, das Demirören auf seinem Bankkonto hat, ist unser Geld. Das unterscheidet sich nicht von einem Dieb, der zu Ihnen nach Hause kommt und Ihr Geld stiehlt“. Yezdani sagte, sie warte immer noch auf die erste Anhörung ihres Falles. ‚“Die Eigentümer von Hürriyet beuten 505 Jahre Arbeit aus.“

Die Entlassung des Hürriyet-Personals wurde auch im jährlichen Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission über die Türkei festgehalten, in dem es heißt: „Im Oktober 2019 entließ die Zeitung Hürriyet 45 Medienmitarbeiter ohne Entschädigung, von denen 43 wegen ihrer Gewerkschaftstätigkeit entlassen wurden“.

Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist ein verfassungsmäßiges Recht, das ihre Entlassung wegen Gewerkschaftsmitgliedschaft illegal macht.