Das International Press Institut (IPI), ein globales Netzwerk an Redakteuren, Medienvertretern und führenden Journalisten für Pressefreiheit, drängte die türkischen Gerichte, das Ende Juli verabschiedete Social-Media-Gesetz nicht zu missbrauchen, um Nachrichportale zu zwingen, Nachrichteninhalte zu entfernen. Die Gerichte haben kürzlich gesetzliche Bestimmungen rund um das „Recht auf Vergessen“ und „Verletzungen der Persönlichkeitsrechte“, die im Gesetz enthalten sind, angewandt, um die Entfernung von Inhalten anzuordnen.
Am 20. August berichteten lokale Nachrichtdienste, dass ganze 28 Nachrichtenartikeln am 13. August durch die Entscheidung eines lokalen Gerichts aus dem Internet entfernt worden waren. Die Artikel bezogen sich auf den ehemaligen nationalen Ringer Recep Çakır, der wegen Vergewaltigung einer 23-jährigen Frau im Jahre 2012 zu 23 Jahren und sechs Monaten verurteilt wurde. Das Gericht berief sich auf „das Recht auf Vergessen“, das im neuen Social-Media-Gesetz enthalten ist, um die Entfernung zahlreicher Nachrichtenbeiträge zu rechtfertigen und erklärte, dass die „Persönlichkeitsrechte des Verurteilten verletzt worden seien.“
Inzwischen hat IPI über lokale Plattformen die Entfernung von mindestens sieben Nachrichtenartikeln von 21 Nachrichtenportalen seit Mitte Juli aufgrund von „Persönlichkeitsrechtsverletzungen“ registriert.
Das „Recht auf Vergessen“ war bereits im türkischen Recht verankert und wurde in den vergangenen Jahren bei vielen Urteilen des Verfassungsgerichts und des Obersten Kassationshofes (SCC) angeführt. Das kürzlich verabschiedete und heftig kritisierte Internetgesetz zur Regulierung von sozialen Medien und Online-Plattformen änderte jedoch den bestehenden Artikel 9 des Gesetzes Nr. 5651 über die Regulierung von Internetveröffentlichungen, um die Entfernung von Inhalten zu erleichtern und Netzbetreiber zu verpflichten, Entfernungsbeschlüsse innerhalb von vier Stunden umzusetzen.
Das neue Gesetz sieht auch vor, dass das Gericht auf Antrag einer Person, deren Rechte durch eine Online-Publikation/einen Online-Inhalt verletzt wurden, die Entfernung ihres/seines Namens aus besagtem Online-Nachrichtenartikeln anordnen kann. Eine weitere problematische Gesetzesänderung ist, dass nun die entfernten Inhalte aus den Ergebnissen von Suchmaschinen wie Google, Bing, Yahoo und Yandex entfernt werden können. Der letzte Satz des neuen Gesetzes in Artikel 5 besagt, dass „die Entscheidung [bezüglich der Entfernung von Inhalten] auch an die gewählten Suchmaschinen übermittelt wird.“
In einer Entscheidung des SCC aus dem Jahr 2015 wurde „das Recht auf Vergessen“ wie folgt erklärt:
„Das Recht auf Vergessen, kann definiert werden als das Recht, zu verlangen, dass die persönlichen Daten aus dem digitalen Gedächtnis gelöscht werden oder deren Verbreitung über negative Vorfälle in der Vergangenheit gehindert wird, solange es kein übergeordnetes öffentliches Interesse gibt.“
Lokale Experten betonen jedoch, dass insbesondere der Fall eines wegen Vergewaltigung verurteilten Straftäters, der immer noch im Gefängnis sitzt und seine Strafe verbüßt, definitiv eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ist, die nicht vergessen oder aus dem öffentlichen Gedächtnis gelöscht werden sollte.
Der stellvertretende Direktor IPIs, Scott Griffen, unterstrich die Tatsache, dass der Handlungsspielraum in der Türkei für Nachrichten und persönliche Meinungsäußerungen mit dieser neuesten Regelung über das Internet geschrumpft ist. „Die Entfernung von Nachrichteninhalten im öffentlichen Interesse durch türkische Gerichte auf der Grundlage des „Rechts zu vergessen“ verletzt das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Informationen“, sagte er.
„Wir sind zutiefst besorgt, dass, insbesondere angesichts des bedeutenden politischen Einflusses auf die türkischen Justiz, politische Führer der Türkei und andere Personen in Machtpositionen versuchen werden, die Entfernung kritischer Online-Inhalte über sie zu erzwingen, basierend auf einem weitreichenden Verständnis des „Rechts zu vergessen“. Das wird der türkischen Demokratie weiter schwer schaden“.
Die Plattform „EngelliWeb“ (BlockedWeb) der Turkey’s Freedom of Expression Association sammelt Daten über den blockierten Zugang zu Websites. Dem letzten Bericht der Plattform zufolge wurden allein im Jahr 2019 3.528 Nachrichtenartikel von Nachrichtenplattformen entfernt, nachdem der Zugang zu ihnen blockiert worden war.
Aus dem Englischen von Julia Rieser übersetzt