In einer gesunden Demokratie sollten sich politische Führer und Amtsinhaber öffentlicher Ämter stets der Öffentlichkeit gegenüber verantwortungsvoll verhalten, indem sie bereit sind, auf Fragen von Journalisten und kritischen Gruppen zu antworten. Politische Führer, auch in einigen der etabliertesten Demokratien, versuchen jedoch zunehmend, sich der Überwachung durch die Medien zu entziehen, indem sie kritischen Medien den Zugang verweigern und diejenigen bedrohen, die eine ungünstige Berichterstattung liefern. Die türkische Journalistin Nevşin Mengü hat aus erster Hand erfahren, wie Präsident Erdoğan in den letzten Jahren versucht hat, seine Medienauftritte zu steuern und zu kontrollieren, um eine zuverlässig positive Berichterstattung zu gewährleisten.
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die Ansichten des International Press Institutes wider.
Wenn Sie in eine Suchmaschine „Fragen, die Erdoğan verärgern“ eingeben, ist online eine recht umfangreiche Lektüre zu finden. Rückblickend auf die letzten Jahre gab es eine Reihe von Fragen, die ihn wirklich verärgert haben.
Ein denkwürdiger Vorfall ereignete sich während des Friedensprozesses zwischen der PKK und der türkischen Regierung von 2010 bis 2015. Im Jahr 2010 traf sich Erdoğan mit einer Reihe von Frauenrechtsgruppen, um den Prozess zu diskutieren, als eine der Vertreterinnen fragte: „Warum zeigt die Regierung nicht die gleiche Sensibilität gegenüber den Problemen kurdischer Frauen wie gegenüber Frauen mit Kopftuch?“
Das war eine kühne Frage, da sie den schlechten Status der Grundfreiheiten in der Türkei und die Scheinheiligkeit der Haltung der Regierung offenbarte.
Zeitungsartikel aus dieser Zeit mit Schlagzeilen wie „Der Zorn des Premierministers“ lassen vermuten, dass er zwar die Beherrschung verlor, es ihm aber dennoch gelang, eine angemessene Antwort zu geben: „Wir diskriminieren Frauen nicht“.
Im Jahr 2013 hielt Erdoğan eine Pressekonferenz zu den Gezi-Park Protesten ab, als die damalige Reuters-Korrespondentin Birsen Altaylı fragte: „Die Demonstrationen begannen, um den Gezi-Park zu schützen. Jetzt werden sie zunehmend als Teil eines allgemeineren Protests der Bevölkerung gegen die Regierung gesehen. Es wurde angedeutet, dass Ihre herablassende Haltung gegenüber der sozialen Bewegung zu noch mehr Wut unter den Demonstranten führte. Stimmen Sie dem zu und würden Sie eine versöhnlichere Haltung in Betracht ziehen?“
Das Bild von Erdoğan, vor Wut kochend, verwirrt durch eine solche Frage, bleibt in der Erinnerung derer, die dort waren, eingebrannt. Erdoğan beschuldigte Altaylı, Reuters falsch informiert zu haben, bevor er die berühmte Erklärung abgab: „Unsere fünfzig Prozent müssen nicht zu Hause bleiben“, eine implizite Drohung, seine Anhänger zu mobilisieren, um gegen die Gezi-Protestierenden auf die Straße zu gehen.
Stunden später stürmte Erdoğan Berichten zufolge aus einer Sitzung über die Planung des Gezi-Parks, an der Stadtplaner und Vertreter der Zivilgesellschaft teilnahmen, und sagte: „Wir werden von Ihnen nichts über Stadtplanung lernen“, als er das Gefühl hatte, dass seine Methoden in Frage gestellt wurden.
Bis 2013 war Erdoğan im Großen und Ganzen dazu bereit, sich mit Dissidentengruppen zu treffen und kritische Fragen von Journalisten und NGOs zu beantworten.
Seit den Gezi-Protesten haben wir beobachtet, wie sich der Status der Pressefreiheit Schritt für Schritt verschlechtert hat. Erdoğan zog sich allmählich aus den öffentlichen Fernsehdiskussionen zurück, und bei denen er teilnahm, wurden die Journalisten und ihre Fragen zunehmend ausgewählt. Bei Pressekonferenzen sorgten Erdogans Presseberater dafür, dass die Reporter und ihre Fragen im Vorfeld sorgfältig geprüft und genehmigt wurden.
So wie die Zahl der Titel und Ehrungen von Erdoğan anstieg, gleich der Medaillen, die dem ehemaligen sowjetischen Führer Leonid Breschnew an die Brust geheftet wurden, verringerte sich seine Toleranz gegenüber Fragen und Kritikern. Auf seinem Weg vom Premierminister zum Präsidenten sahen wir, wie die Zahl der Menschen, die nahe genug an Erdoğan herankommen konnten, um ihm Fragen zu stellen, an einer Hand abgezählt werden konnte.
Aber gelegentlich kann die Schutzschicht um Erdoğan trotzdem versagen. Während einer Pressekonferenz Ende Februar 2020 war Erdoğan wütend, als der FOX-Fernsehreporter Barış Kaya das Mikrofon ergriff und nach türkischen Soldaten fragte, die kürzlich im libyschen Konflikt getötet wurden. „Sie haben angekündigt, dass wir Märtyrer in Libyen haben. Die Oppositionsparteien fragen jedoch, warum die Namen der Märtyrer noch nicht bekannt gegeben wurden und warum für sie keine Zeremonie stattgefunden hat. Einige Leute waren auch beleidigt durch Ihren Hinweis auf die in Libyen verlorenen Soldaten als ‚einige Märtyrer’…“.
Zuerst schien Erdoğan die Frage nicht zu verstehen und fragte „Was?“ Dann folgte ein langes Schweigen, als Erdoğan den FOX-Fernsehkorrespondenten fassungslos anstarrte, wegen dem, was er gerade gehört hatte. Es war so lange her, dass ihm jemand vor den Kameras eine richtige Frage gestellt hatte.
Als Erdoğan schließlich antwortete, beantwortete er die Frage nicht, sondern erklärte stattdessen „FOX soll zuerst eine Zeitung sein, ein echtes Medienunternehmen.“ Es wurde viel darüber spekuliert, was diese Antwort bedeutete, wobei viele spekulierten, dass das eine implizite Bedrohung für FOX TV sei.
Journalisten im Kreise Erdoğans fragten bereits, welche Strafe die Medien erhalten sollen. Das ist nicht ironisch gemeint. Unmittelbar nach dem Vorfall fragte ein anderer Journalist Erdoğan, wie Fox TV bestraft werden sollte. Eine Frage, so wurde festgestellt, auf die Erdoğan eher gerne antwortete.
Weitere Fragen, die Erdoğan gerne beantwortet, sind unter anderem, was sein Geheimnis für ein gesunden Lebens ist und was seine Lieblingsrezepte für Eier sind. Dank der furchtlosen Korrespondenten, die den Präsidenten derzeit umgeben, haben wir auch erfahren, dass Erdoğan sich vor dem Coronavirus schützt, indem er Traubensirup (Pekmez) trinkt.
Obwohl es unwahrscheinlich ist, von Erdoğan Antworten auf die wichtigsten politischen Themen des Tages zu erhalten, ist es durchaus möglich, „Lifestyle“-Tipps zu erhalten.
Als Politiker trägt man eine allgemein anerkannte Verantwortung, Fragen von Journalisten, Bürgern und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu beantworten. Dennoch, wahrscheinlich weil er sich selbst als über der Politik stehend sieht, scheint Präsident Erdoğan darauf zu bestehen, diese Verantwortung abzulehnen.